Die eine sagt: Man darf Wein nur aus einer einzigen Rebsorte keltern. Jeder Zusatz ist eine Befleckung. Die andere preist genau das Gegenteil an: Keine Rebsorte ist so komplett, dass sie allein einen vollkommenen Wein erbringen kann, jede bedarf der Ergänzung durch einen (oder mehrere) Partner. Der Vatikan der einen steht im Burgund und sein Heilsbringer heisst Pinot Noir, das Mekka der Gegenpartei liegt in Bordeaux und ihr Credo hat mindestens zwei Namen: Cabernet Sauvignon und Merlot. Plus noch einige dazu.
Und jetzt? Wer hat recht? Natürlich beide.
Bleiben wir in Bordeaux. Hier sind die Winzer davon überzeugt, in Cabernet Sauvignon und Merlot das absolute Traumpaar der Weinwelt gefunden zu haben: Der Cabernet schenkt dem Wein die Struktur, das Gerüst oder das Skelett, der Merlot dagegen das Fleisch, die Geschmeidigkeit und Fülle. Zusammen sind sie wie Yin und Yang, männlich und weiblich, ganz und vollkommen. Und damit nicht genug, denn nicht nur die Struktur der Weine ergänzt sich perfekt, nein auch in der Nase und im Gaumen sind sie ein Traumpaar: Der Cabernet ist leicht erkennbar an seinem Duft, der an Cassis, Paprika und rote Johannisbeeren erinnert, dazu treten Harz und jede Menge von Gewürzen wie Zimt, Thymian, Lorbeer und Lakritze, ferner der Duft, den man vom Bleistiftspitzen her kennt: Zedernholz und Graphit. Dagegen verführen die Düfte des Merlot mit viel «süsser» Frucht, mit Kirschen, Pflaumen, Erdbeeren und Himbeeren. Sein Most ist zuckerreich und schenkt daher dem Wein reichen Alkohol.
Jeder Winzer im Bordelais pflanzt in seinen Weinbergen diese beiden Rebsorten an. Und ganz nach seinem Geschmack und seiner Philosophie noch andere dazu. Und doch gibt es ganz grundsätzliche Unterschiede: Der Cabernet braucht etwas mehr Wärme und Sonne und gedeiht daher besser im wärmeren südwestlichen Teil der Region, im Médoc und in Graves. Deshalb sind die Weine dort in der Jugend «strenger», später majestätischer und aufs Ganze auch langlebiger. Dort stehen auch die weltberühmten Châteaux: Lafite, Latour, Margaux, Mouton usw. Auf der nördlicheren, meerferneren und damit kühleren Seite der Region, der Rive droite, reift der Cabernet nur unzuverlässig aus. Dort dominiert der Merlot die Weinberge. Wir sind in St-Emilion und Pomerol. Entsprechend sind die Weine von fülliger Üppigkeit, weich und verführerisch.
Annemarie Wildeisen: Du nennst in deinem Artikel die berühmten Châteaux Lafite, Latour usw. Da kostet doch eine Flasche je nachdem ein paar Hunderter- oder sogar Tausendernoten. Als Durchschnittsverdiener habe ich wohl keine Chance, je eine solche Flasche zu entkorken. Muss ich da einfach resignieren und vor einer verschlossenen Türe stehen bleiben?
Beat Koelliker: Ja leider ist das schon so. Die Schönen und Reichen dieser Welt von Tokio bis New York reissen sich um die paar Flaschen, die jährlich auf den Markt kommen. Und die können sich das halt auch leisten. Aber! Es gibt im Bordelais mehr als 13 000 Weinerzeuger. Und wirklich teuer sind vielleicht hundert oder zweihundert. Daneben gibt es Tausende, die auch guten oder sogar hervorragenden Wein machen. Wein, der erschwinglich ist und den auch wir Normalbürger bezahlen können.
Einverstanden, aber wie finde ich diese Nadel im Heuhaufen?
Man darf nicht vergessen, dass das Niveau der Weine auf der ganzen Welt und auch im Bordelais in den letzten Jahrzehnten massiv gestiegen ist. Die Nadel ist nicht mehr so einsam. Der Heuhaufen ist inzwischen gespickt damit ...
Trotzdem, man muss sie finden.
Ja klar. Aber das ist ja auch Teil des Vergnügens. Man kauft im Handel halt immer wieder mal ein zwei Flaschen, probiert sie zu Hause und findet so seine Lieblinge.
Ok, das tönt doch recht nach Blindflug. Gibt es da nicht ein paar Navigationshilfen?
Doch, doch: Im Médoc, wo die meisten teuren Châteaux stehen, haben sich die qualitätsorientierten Winzer, die nicht zu diesem «Adel» gehören, zu einer Allianz der bürgerlichen Weingüter zusammengeschlossen und die Auszeichnung Crus Bourgeois kreiert. An dieser Auszeichnung kann man sich orientieren und fährt damit in der Regel nicht schlecht.
Gibt es so etwas auch in anderen Regionen des Bordelais?
Ja, in St. Emilion wurden letztmals 2012 die Weingüter klassifiziert. Danach gibt es einige Hundert Grands Crus. Das hat also nicht sehr viel zu bedeuten. Darüber stehen die Grands Crus Classés. Da kann man sich schon eher darauf verlassen. Und nochmals darüber findet man die Premier Grands Crus Classés, aber da sind wir schon wieder im sehr gehobenen Preisniveau.