Was Menschen rund um den Globus als «Bolognese» schätzen und lieben, gehört in der Tat zu den beliebtesten Gerichten überhaupt. Aber für dogmatische Vertreter der wahren Lehre italienischer Genüsse hat der Rest der Welt die «Bolognese» nicht nur nicht verstanden, sondern schändet dieses ikonische Ragù regelmässig mit zu viel Tomaten, Fertighackfleisch, einer viel zu kurzen Garzeit und am allerschlimmsten: mit Spaghetti! Ein richtiges, wahrhaftiges Ragù alla bolognese wird nur mit Tagliatelle serviert und bei der Zubereitung ist das offizielle, von der Academia Italiana della Cucina als Original deklarierte Rezept zu befolgen.
Eine klare Sache also? Nicht wirklich. Denn auch die kulinarische Welt funktioniert nicht so einfach, wie es die selbst ernannten Traditionsbewahrer gerne hätten. Genau hier legt der bekannte Food-Historiker Luca Cesari in seiner typisch unbequemen Art den Finger in die Wunde: In seinem Buch «Die Geschichte der Pasta in zehn Gerichten» entzaubert er dank akribischer historischer Recherche so manchen sich hartnäckig haltenden Pasta-Mythos. Dem «Ragù alla bolognese» widmet er dabei ein eigenes Kapitel. Dessen Geschichte ist nämlich gar nicht so einfach zu rekonstruieren. Bis um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert findet sich, so Cesari, ausser Tortellini kein einziges Pastagericht, welches das Attribut «alla bolognese» trägt.
1844 stösst man erstmals auf ein Rezept, das angibt, die bei der Zubereitung von Braten entstandene Sauce mit zusätzlichem Fleisch zu ergänzen und zu Pasta zu reichen. Bis dahin war die Pastasauce eher ein Nebenprodukt anderer Gerichte. Durch diese Entkoppelung beginnt sich die eigentliche Fleischsauce zu entwickeln. Am Ende des 19. Jahrhunderts verfasst Pellegrino Artusi mit seinem Werk «Von der Wissenschaft des Kochens und der Kunst des Geniessens» eines der wichtigsten Bücher der italienischen Küche und präsentiert ein Rezept für «Maccheroni alla bolognese», welches als Vorläufer des modernen Ragùs gilt.
Die Basiszutaten (Schweinefleisch, Rindfleisch, Sellerie, Karotte und Zwiebel) sind bereits vorhanden; allerdings auch Pilze, Hühnerleber und Rahm – nur Tomaten sucht man noch vergeblich. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts erscheinen immer mehr solche Rezepte; dabei werden die Maccheroni von den Tagliatelle abgelöst und die Tomaten werden zu einer festen Zutat. Es kursieren noch sehr viele verschiedene regionale Varianten, die sich stark von unseren heutigen Vorstellungen unterscheiden.
1982 erklärt die Academia Italiana della Cucina ein Rezept mit den Zutaten Rindfleisch, Pancetta, Karotte, Zwiebel, Stangensellerie, Tomatenmark, Weisswein und Vollmilch zum Original. Für Luca Cesari ein Akt der Willkür. Er kommentiert etwas spöttisch: «Die Strategie kennen wir doch, oder? Der feierliche Ton, der Verweis auf eine legendenumwobene Geschichte, um eine klassische Version zu rechtfertigen, die, wie wir nun wissen, nicht älter als sechzig Jahre ist.» Gastropuristen, die jegliche Abweichung vom vermeintlichen «Original» mit Gotteslästerung gleichsetzen, sollte man daher nicht allzu ernst nehmen, denn sie übersehen schlicht, dass es sich bei diesem «einzig wahren» Rezept nur um eine von vielen möglichen Varianten handelt. Übrigens: 1917 empfiehlt Julia Lovejoy Cumberti in einem amerikanischen Italien- Kochbuch zum ersten Mal, ein Ragù mit Spaghetti zu kombinieren. Diese Idee erfreut sich in den USA enormer Beliebtheit und schwappt dann irgendwann nach Europa zurück. Allerdings stark vereinfacht und dem Geschmack einer Bevölkerung entsprechend, die keine Zeit für stundenlange Zubereitungen hat. Spätestens jetzt dürfte klar sein: Ragù alla bolognese und Spaghetti bolognese sind schlicht zwei komplett verschiedene Gerichte – jedes mit einer ganz eigenen Geschichte.