Endlich hat die Plackerei im schattenlosen Weinberg ein Ende. Das Heer von Saisonarbeitern kann sich an die langen Tische setzen, die Beine strecken und den schmerzenden Rücken dehnen. Bald schon spielt das Akkordeon und vielleicht mag sogar noch jemand tanzen.
Es ist jedes Jahr fast wie in der Lotterie. Der Winzer und seine Berater müssen festlegen: Heute beginnt die Lese, wir warten keinen Tag länger, nein, heute stimmt alles. Und das heisst, die Trauben haben ihre optimale Reife erlangt, das Wetter spielt mit und die Leute sind da. Drei Faktoren also, die passen müssen und auf die alles ankommt.
Die optimale Reife erreichen die Trauben nur für ein paar wenige Tage. Vorher ist die Lese zu früh, nachher zu spät. Sie hängen in der Sonne und baden im Licht. Dabei entwickeln sie Zucker, der später im Keller zu Alkohol vergoren wird, der Winzer und der Weinliebhaber danken es ihnen. Gleichzeitig aber baut die Traube auch Säure ab. Der später aus ihr gekelterte Wein verliert damit an Frische und Lebendigkeit, oft auch an aromatischer Fülle. Es gilt also, den Zeitpunkt zu finden, wo sich beides, Zucker und Säure, in einem optimalen Gleichgewicht befinden. Und der ist für jede Rebsorte, für jedes Jahr und für jeden Rebberg anders. Schlaflose Nächte sind für den Winzer vorprogrammiert.
Das Wetter ist die nächste Hürde. Vielleicht sind die Trauben noch nicht ganz so weit, aber eine Regenfront nähert sich. Oder vielleicht doch nicht? Soll der Winzer zuwarten und auf Risiko spielen? Sein Jahresgehalt und das seiner Familie stehen auf dem Spiel. Und wieder sind schlaflose Nächte vorprogrammiert. Ja und vor der Tür stehen die Erntearbeiter. Sie kosten jeden Tag, an dem sie warten und Daumen drehen, statt im Weinberg zu ernten...
Aber jetzt ist alles getan: Die Traktoren sind geschmückt und die Trauben im Keller. Es ist geherbstet, wie man hierzulande sagt, und heute kann man feiern. Morgen allerdings beginnt die Arbeit von Neuem: Der Winzer hat seine Pflicht getan, jetzt muss der Kellermeister die seine tun, Entscheidungen fällen, schlaflose Nächte durchstehen, und hoffentlich gibt es für alle auch ganz am Schluss etwas zu feiern.
Annemarie Wildeisen: Du schreibst von schlaflosen Nächten, aber die Traubenlese kann ja bekanntlich auch maschinell gemacht werden. Dabei leistet eine einzige Maschine mit einem Arbeiter in wenigen Stunden das gleiche, was ein Heer von Erntehelfern nur in Tagen schafft. Warum stellt man da nicht einfach um?
Beat Koelliker: Du hast mit deiner Frage natürlich recht: Man spart Personal, kann einfacher planen und die ganze Lese dauert, wie du sagst, nur Stunden. Ja, man kann die Lese sogar in der Nacht oder am frühen Morgen, wenn es noch kühl ist, über die Bühne bringen. Die Trauben kommen also zum absolut besten Moment in den Keller.
Und warum macht man das denn nicht?
Als Aussenstehender denkt man, Lesen von Hand ist halt viel romantischer. Aber das ist nicht der Grund. Der menschliche Erntehelfer kann beim Lesen faule oder minderwertige Trauben ausscheiden. Die gesunden Trauben legt er dann sorgfältig in Körbe oder Wannen und garantiert so eine hochwertige Ernte. Er kann in jedem Gelände, auch in steilen Hängen arbeiten und sogar Trauben ernten, die in einer Pergola über seinem Kopf hängen. Für die Erntemaschine dagegen müssen die Rebzeilen in genügendem Abstand stehen, dass sie gut dazwischen durchfahren kann. Dabei schlägt sie beim Lesen auf die Stöcke und löst so die Beeren und Trauben von den Pflanzen. Dabei werden viele Beeren verletzt, Blätter und andere Teile der Pflanze werden mitgeerntet. Das alles ist für den Qualitätsweinbau natürlich nicht wirklich optimal.
Eine ganz andere Frage: Wenn ich im Herbst mit einem Winzer durch die Weinberge gehe, so zieht er ein Instrument aus der Tasche und misst die Oechslegrade. Hat das etwas zu tun mit dem Lesezeitpunkt?
Ja sicher. Der Winzer misst mit seinem Instrument, dem Refraktometer, den Zuckergehalt des Mosts. Das geht schnell und unkompliziert direkt im Weinberg. So hat er einen Hinweis auf den zu erwartenden Alkoholgehalt des späteren Weins. Da in unseren Breiten der Zuckergehalt eher ein Problem darstellt als die Säure, hilft ihm dieser Wert sehr bei der Festlegung des Lesezeitpunkts. Je südlicher man aber kommt, umso wichtiger wird die Säure. Zu viel Alkohol und zu wenig Säure machen die Weine flach, dick oder sogar marmeladig.