Und damit treffen sie sowohl ihren noblen Charakter wie auch ihre sinnliche Schönheit in einem einzigen Wort. Wir Schweizer nennen sie einfach Chasselas oder Fendant oder mit dem Namen ihrer Herkunft: Yvorne, St. Saphorin oder Vully. Und damit hat sich’s.
Dabei führt uns schon ihre Ahnenreihe in geheimnisvolles Dunkel: Einige Forscher suchten ihre Wiege im märchenhaften Nahen Osten, in Ägypten oder im Jordantal. Neue DNA-Untersuchungen legen aber nahe, dass sie doch irgendwo an den Ufern des Genfer Sees stand. Hier fühlt sie sich wohl und von hier aus überblickt sie ihr ganzes Herrschaftsgebiet, das bis hinauf in die Walliser Berge und bis hinüber ins Dreiseenland reicht.
Auf den sanften Moränenhügeln zwischen Lausanne und Genf sind auch ihre Weine frisch, leicht und freundlich. Immer wenn auf dem See das Schiff sein Horn ertönen lässt, soll der Waadtländer Winzer sein Glas erheben und verkünden: «Santé, le bateau a sifflé». Es ist Zeit zum Anstossen. Denn diese spritzigen einheimischen Weine sind perfekt für jeden Anlass und für jede Tageszeit. Und zu den leichten Fischgerichten des Sees gibt es nichts Besseres.
Gehen wir aber von Lausanne nach Osten, so eröffnet sich uns ein landschaftliches Spektakel, das sogar als UNESCO-Welterbe ausgezeichnet wurde, das Lavaux. Hier sticht besonders die Appellation Dézaley heraus. Und deren Weine spiegeln dieses Naturschauspiel wunderbar in ihrem Charakter: Sie sind tiefgründig und mineralisch, fast hat man den Eindruck, den Duft der sonnenwarmen Steine zu riechen. Lässt man diesen Flaschen einige Jahre zur Reife, so entwickeln sie ganz erstaunliche Aromen, die an Wachs, Honig und Nüsse erinnern. Das von vielen Weinkennern als Aschenputtel verkannte Kind entpuppt sich als majestätische und elegante Königin. Zu ihr passt auch auf dem Teller nur ein erlesenes Gericht, ein edles Geflügel, geschmortes Rind oder auch eine Leberterrine.
Und damit sind wir beim Punkt. Genau darum liebe ich diese Rebsorte: Sie ist voller Überraschungen. In jeder Ecke der Schweiz und in jedem Jahr schmeckt sie anders, wie ein Edelstein, der das Licht bei jeder Drehung anders bricht.
Annemarie Wildeisen: Du sprichst in deinem Artikel nur von den Weinen des Genfer Sees, da gibt es aber auch noch das Wallis mit seinem Fendant.
Beat Koelliker: Ja genau, und das ist durchaus ein ganz eigenständiger Wein, dem man anmerkt, dass ihm die Nähe des lieblichen Sees fehlt. Fendant ist immer etwas kräftiger, alkoholreicher und robuster, mehr von den schroffen Bergen geprägt. Trotzdem kriegt man ihn als jungen Wein überall im Wallis auch als frischen, süffigen Aperitif serviert. Klassisch ist er aber als Begleiter der typischen Walliser Käsespezialitäten, Fondue und Raclette. Da passt er mit seiner runden Fülle auch perfekt dazu.
... und wenn wir jetzt auch noch einen Schritt in die andere Richtung machen, ins Dreiseenland?
...dann kommen wir in eine der charmantesten Weinregionen der Schweiz. Wie der Name schon sagt, liegen die Weinberge hier an den drei Juraseen, Neuenburger-, Bieler- und Murtensee. Ihre steilen Ufer schützen sie aber gut gegen alle Unbill, die wettermässig von Westen herkommen. Die Weine sind sehr vielfältig, man könnte tagelang von Kellerei zu Kellerei und damit von Entdeckung zu Entdeckung spazieren. Allen ist aber trotz ihrer Vielfalt ein blumig-charmanter, ich würde fast sagen, lindenduftiger Charakter eigen. Ein Egli aus den Seen ohne ihre Begleitung wäre eine unverzeihliche Sünde wider den Heiligen Geist.
Und jenseits der Grenze? Ausserhalb der Schweiz, gibt es da auch noch Chasselas-Weine?
Nur wenig. In Frankreich etwa, im Elsass, wo er aber im Edelzwicker untergeht oder in der Loire-Gegend, wo daraus ein recht einfacher Wein mit dem Namen Pouilly-sur-Loire gekeltert wird. Die interessantesten Rebflächen finden wir in Deutschland, vor allem im Markgräflerland, wo er eben Gutedel heisst, und in der Pfalz. Aber das sind nur kleine regionale Gebiete.
Nun habe ich aber die Chasselas-Traube auch schon als Tafeltraube gesehen. Hat sie da eine eigene Bedeutung?
Ja, das hat sie. Die Trauben sind relativ gross und süss mit einer milden Säure. Dabei erhalten die Beeren bei der Reife einen schönen honigfarbenen Goldton. Das macht sie als Tafeltraube ganz besonders attraktiv. In Frankreich ist sie recht verbreitet und oft auch als Spalierrebe an den Häusern zu finden.