Und dann hat das Warten endlich ein Ende. Der Kellner durchschreitet den idyllischen, im Schatten von Weinreben liegenden Garten des Ristorante Centovalli in Ponte Brolla und steuert mit einer metallisch glänzenden Servierplatte in den Händen unseren Tisch an. Nun liegt er vor uns in all seiner Pracht, der alleinige Grund weshalb wir hierhergekommen sind: Risotto. Und zwar richtiger Risotto – nicht dieser körnig-trockene Brocken, den wir Deutschschweizer allzu oft als ein in Förmchen gepresstes Etwas servieren – nein, Risotto «all` onda», schlotzig, cremig, leicht, suppig, also genau so, wie er sein muss.
Die Tessiner Küche beherrscht das Spiel mit den Gegensätzen perfekt: Aus einfachsten Zutaten werden pompöse Gaumenfreuden.
Der erste Bissen und man wähnt sich im Himmel, der zweite und man ist dem Gericht verfallen. Diese Delikatesse wird nicht mit einer unvernünftig grossen Menge Parmesan malträtiert, hier würzt genau richtig dosierter Gorgonzola den Reis. Dazu diese herrlich rosa gebratenen Lammfilets mit Maggiapfeffer und ein im Barrique ausgebauter Merlot im Glas – und der Moment könnte vollkommener nicht sein. Es gibt viele Gründe, ins Tessin zu reisen. Dieser Risotto ist bestimmt einer davon. Nun hat die Schweizer Sonnenstube aber noch weitaus mehr zu bieten, nicht nur in kulinarischer Hinsicht. Da ist etwa dieses faszinierende Spiel der Gegensätze:
Auf Seehöhe stehen Palmen, am Berg hängen imposante Gletscher, uralte Kirchen grenzen an moderne Architektur.
Im südlichsten Teil der Schweiz, wo Italien stets spürbar ist, funktioniert das perfekt. Während man einerseits in der Tessiner Bergwelt durch stille Täler und einsame Dörfer wandert, flaniert man andererseits über die belebte Piazza Riforma in Lugano mit der Leichtigkeit des schwarmediterranen Dolce Vita. Wer Lust hat auf eine architektonische Zeitreise, der besichtigt zuerst die mächtigen mittelalterlichen Burgen von Bellinzona und dann Mario Bottas avantgardistische Kapelle in Mogno. Eine Expedition durch verschiedene Klimazonen verspricht eine Tour auf den Berg Cardada (subalpin), den Hausberg von Locarno, von dem man leicht auf die Cimetta (alpin) gelangt. Wieder unten in mittelmeerähnlichen Gefilden angelangt, trennt einen nur eine kurze Bootsfahrt von tropischer Vegetation, die auf der Insel Brissago mit ihrem unvergleichlichen botanischen Garten vorherrscht.
Im Tessin ist es einfach wärmer als an den meisten Stellen der Schweiz. Diese klimatischen Bedingungen haben sich auch auf das kulinarische Wesen der Region ausgewirkt. Denn: Wie konnte man Würste, Wein und Käse auch in der Sommerhitze frisch halten, zu einer Zeit als es noch keinen Strom gab? Die einfallsreichen Tessiner wussten sich zu helfen: Das Grotto war geboren! In den Grotti, also den Felsenkellern, bleibt die Temperatur das ganze Jahr über konstant kühl. In Mendrisio beispielsweise reift dort heute noch der Zincarlín-Käse heran. Als angenehmer Nebeneffekt haben sich viele dieser Naturkühlschränke zu den rustikalen, gemütlichen Gaststätten entwickelt, die wir heute als Grotti kennen:
Einladende Restaurants im Grünen, wo auf Granittischen im Freien einheimische Spezialitäten aufgetischt werden.
Das Grotto America in Ponte Brolla ist dafür ein wunderbares Beispiel. Das hübsche Lokal, das zudem eng mit der Tessiner Geschichte verbunden ist, liegt direkt an der Maggia, umgeben von vielen alten Höhlen, in denen einst Köstlichkeiten vor der brütenden Hitze des Sommers geschützt wurden. Als es in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts entstanden ist, gehörte es zu einem der wichtigsten Treffpunkte der Region, an dem die Auswanderer zusammenkamen, um sich auf den Weg nach Amerika zu machen. Noch heute hängen dort Original-Wandgemälde einer Tessiner Emigrantenfamilie, die es in Übersee zu etwas gebracht hatte. Doch hielt es sie nicht allzu lange dort; denn sie kehrten zurück, kauften das Grotto und gaben ihm den Namen «America», in Erinnerung an ihre grosse Reise. Heute wird das Bijou vom ehemaligen Profisnowboarder Davide Buvoli und seinem Vater Angelo geführt. Im Gewölbekeller und im Garten werden Gerichte serviert, die auf traditionellen Tessiner Rezepten und auf Produkten von kleinen, lokalen Herstellern beruhen.
Da ist zum Beispiel das Landwirtschaftsgut Terreni alla Maggia, das Polentamehl aus selbst angebautem Mais, Teigwaren aus Hartweizen – und Reis produziert. In den 1990er-jahren wurde auf dem sandig-lehmigen Schwemmland der Maggia in Ascona auf 198 m.ü.M. versuchsweise mit dem Anbau von Reis begonnen. Seit 1997 wächst auf einem der nördlichsten Reisfelder der Welt Reis von der Sorte Loto, das sich hervorragend für die Zubereitung von Risotto eignet. Bevor man sich nun wieder den Freuden des Risottoessens widmet, sollte man sich einen Bummel durch Ascona nicht entgehen lassen. Durch die verzweigten und charmanten Gassen der historischen Altstadt gelangt man bald einmal auf die Seepromenade, wo sich einem der Blick auf eine umwerfende Szenerie eröffnet. Typische bunt gestrichene Häuser machen aus dem ehemaligen Fischerdorf einen ganz speziellen Ort mit mediterranem Flair, der einlädt, sich zu entspannen, zu flanieren oder einfach die Seesicht zu geniessen. Besonders gut kann man das etwa in der Bar des «Seven», direkt beim Bootshafen, wo man bei einem Negroni genüsslich das bunte Treiben an sich vorbeiziehen lassen kann.
Den aufkommenden Hunger stillt man dann am besten im Grotto «La Baita». Ein echter Geheimtipp, der im kleinen Ort Orgnana, hoch über der Magadinoebene, zu finden ist. Die kurvenreiche Anfahrt lohnt sich nicht nur wegen der betörenden Aussicht: Chefkoch Gianluca, der mit frischem Blick auf heimische Gerichte schaut, verwöhnt uns bei unserem Besuch mit Rindstatar mit Vallemaggiabrot, Alpenbutter, Belperknolle und schwarzem Trüffel und als Höhepunkt mit einem goldgelben Risotto, auf dem sich gebratene Entenleber und wiederum Tartufi Neri türmen. Den krönenden Abschluss bildet eine frisch aufgeschlagene Zabaione, unter der sich eine Kugel hausgemachter Panettoneglace verbirgt.
Wer es noch etwas ausgefallener mag, sollte als Ziel seiner Reise die Hügel von Cavigliano ansteuern, wo Gigi Rana im «Tentazioni» seine Auslegung einer modernen italienisch inspirierten Küche auf den Teller bringt. So erstaunte er uns etwa mit Neuinterpretationen von Vitello tonnato und Rohschinken mit Melone, Spaghettoni mit Blumenkohl, schwarzem Sesam und Pistacchio di Bronte sowie mit einem in seiner Geschmacksintensität fast an Rindfleisch erinnernden Filet vom Schwein mit «verbranntem» Lauch und Sternanis-Jus.
Aber fehlt da nicht das Grotto-Feeling? Nicht zwingend, aber wem der Sinn steht nach einer gleichwohl gehobenen Küche gepaart mit typisch tessinerisch-rustikalem Ambiente, für den kommt nur das «Da Enzo» in Ponte Brolla infrage. Im vielleicht schönsten Restaurant-Garten des Tessins lässt es sich nur allzu gut verweilen, bei marinierter Garnele und Thunfisch auf Pfirsichspiegel, gefolgt von Bergkäse-Capelletti mit frischen Eierschwämmen, Rindstagliata auf Kartoffelpüree mit Balsamico-Jus und zu guter Letzt einem göttlichen Heidelbeergratin. Man kann (es) sich gut gehen lassen im Tessin – auf irgendeine Weise scheint dort immer die Sonne. Und sei es nur beim Essen.