Was aber ist der tiefere Sinn dieses schönen Rituals? Alte und reife Weine bilden in der Flasche ein Depot, das sich am Boden sammelt und auch dort bleiben soll. Im Glas hat es nichts zu suchen, denn dort sieht es hässlich aus und schmeckt dazu noch meist bitter und adstringierend. Beim Einschenken aber bewegt sich der Wein in der Flasche hin und her, wirbelt das Depot auf und jeder Gast bekommt so seinen Teil davon ab. Deshalb öffnen wir die Flasche schon vor dem Servieren und giessen den Inhalt langsam und stetig in eine Karaffe, ohne den Bodensatz zu bewegen. Wenn wir unter den Flaschenhals eine starke Lichtquelle, eine Kerze oder auch einfach eine Taschenlampe halten, sehen wir genau, wie der Bodensatz langsam nach vorne rutscht und wir können aufhören, bevor er in den Flaschenhals kommt. Wichtig ist, dass wir den Wein erst kurz vor dem Eintreffen der Gäste dekantieren, denn reife Weine sind oft fragil und könnten unter zu viel Sauerstoff leiden und kippen. Wir wählen daher auch eher eine schlanke Karaffe, in welcher der Wein wenig Kontakt mit der Luft hat.
Ganz anders verhält es sich bei jungen Weinen. Sie hatten erst wenig Zeit, um sich in der Flasche zu entfalten und mit dem gelösten Sauerstoff zu reifen. Bei ihnen kann eine Sauerstoffdusche beim Dekantieren oft wahre Wunder wirken. Deshalb giessen wir sie nicht langsam und vorsichtig in die Karaffe, sondern eher mit Schwung. Depot hat sich bei diesen Weinen ja noch keines gebildet. Gerade junge, tanninreiche und alkoholstarke Weine können dabei richtig aufblühen. Die Form der Karaffe sollte eher in die Breite gehen, denn so hat der Wein eine grosse Oberfläche und viel Kontakt mit der Luft. Ganz anders als bei den reifen Weinen darf dieser Kontakt auch ein paar Stunden dauern. Einen noch jungen Barolo beispielsweise kann man durchaus auch schon am Vorabend dekantieren.
Und was mache ich mit den ehrwürdigen, aber jetzt halt leeren Flaschen? Die stellen wir neben die Karaffen auf den Serviertisch. Die Gäste sollen ja sehen, welche Kostbarkeiten Sie aus dem Keller geholt haben.
ANNEMARIE WILDEISEN UND BEAT KOELLIKER IM GESPRÄCH
Annemarie Wildeisen: Im Restaurant passiert es mir immer wieder, dass ein aufmerksamer Kellner die Rotweinflasche bereits während der Vorspeise bringt und auch gleich entkorkt. «So kann der Wein schon mal etwas Luft kriegen.» Wenn das stimmt, müsste man einen jungen Wein ja gar nicht dekantieren, denn mit dem Entkorken kommt ja bereits die gewünschte Luft in die Flasche.
Beat Koelliker: Ganz unrecht hat der Kellner zwar nicht, denn in der Flasche können während der Lagerung auch Fehlgerüche entstehen, die sich nach dem Entkorken verflüchtigen. Aber Luft im eigentlichen Sinne bekommt der Wein so nur ganz marginal, dafür ist die Kontaktfläche im Flaschenhals einfach viel zu klein.
Du schreibst in deinem Beitrag von jungen und reifen Weinen. Wie kann ich erkennen, ob meine Flaschen zu der einen oder der anderen Gruppe gehören? Der Jahrgang allein hilft da ja nur ganz bedingt weiter.
Der Jahrgang kann durchaus einen ersten Anhaltspunkt geben, aber du hast trotzdem vollkommen recht. Ich selbst war einmal an einer Weinprobe mit Michael Broadbent dabei, einem der kenntnisreichsten Weinexperten unserer Zeit, und wir verkosteten Weine von Chateau Latour in Bordeaux. Einen damals schon gut zwanzig Jahre alten Wein bezeichnete Broadbent bei dieser Gelegenheit noch als jung und eigentlich noch nicht wirklich trinkreif. Der Jahrgang hilft also nicht immer weiter, denn viele Weine reifen schneller, andere brauchen dafür etwas mehr Zeit. Aber das ist kein Grund zur Verzweiflung, denn man sieht einem Wein sein biologisches Alter recht gut an: Wenn sein Rand im Probier-Glas noch leicht violett schimmert, ist er noch nicht auf seinem Höhepunkt. Sieht man dort aber bereits leicht zwiebelfarbige Reflexe, dann gehört er schon in die Klasse «reif».
Wir sprechen immer von Rotweinen. Ist es sinnvoll, auch einen Weisswein zu dekantieren?
Gründen: Zum einen liebe ich das schöne goldene oder auch zitronenfrische Funkeln des Weissweins in der Karaffe. Zum anderen gilt das Gleiche wie beim Rotwein. Zwar kann ein Weisswein kein Depot bilden, aber ein gehaltvoller schwerer Weisswein gewinnt mit dem Dekantieren durchaus an Ausdruckskraft, vor allem wenn er noch relativ jung ist.